Am 18. September kommt der Film „Ganzer halber Bruder“ ins Kino. Darin treffen zwei Halbbrüder aufeinander, die zuvor nichts von der Existenz des jeweils anderen wussten. Thomas ist ein aus dem Gefängnis entlassener Betrüger, Roland ein Musikfan mit Down-Syndrom. Ausgedacht hat sich das ungleiche Paar Clemente Fernandez-Gil, der selbst Vater eines Sohnes mit Trisomie 21 ist. Unverstellt und humorvoll zeigt er die Wirklichkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen und verzichtet dabei bewusst auf das Klischee des „netten Behinderten“. Sein Roland im Film ist ebenso willensstark wie widerspenstig – und beeindruckt vielleicht gerade deshalb.
Lange hat Clemente Fernandez-Gil darüber nachgedacht, wie ein Film aussehen könnte, in dem ein Mensch mit Down-Syndrom keine bloße Randfigur ist, sondern im Mittelpunkt der Handlung steht. Dabei, sagt der Drehbuchautor, habe er besonders jene Zuschauer*innen im Blick gehabt, die mit Trisomie 21 bisher keine Berührungspunkte hatten: „Ich wollte natürlich, dass meine Geschichte unterhaltsam ist. Sie sollte aber gleichzeitig eine Einladung in Rolands Welt sein, um ihn und seinen Alltag kennenzulernen. Denn ich glaube, dass wir sehr wenig über Menschen mit geistiger Beeinträchtigung wissen, weil sie öffentlich so gut wie gar nicht vorkommen.“
Diese Unsichtbarkeit, erklärt Fernandez-Gil, habe vor allem mit den in sich geschlossenen Systemen zu tun. Die meist abgelegenen Heime, Förderschulen und Werkstätten in Deutschland, sagt er, ließen Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen kaum entstehen; von einem Zusammenleben könne man da nicht reden.
Falsche Vorstellungen über Down-Syndrom
Der zweifache Vater weiß sehr gut, wovon er spricht. Vor 14 Jahren brachte seine Frau einen Sohn mit Trisomie 21 zur Welt. Sorgen und Ängste während einer Schwangerschaft kann Fernandez-Gil deshalb nachvollziehen. Als fatal empfindet er es jedoch, wenn man werdende Eltern mit düsteren Bildern konfrontiert und ihnen sagt, mit einem Kind mit Down-Syndrom sei das eigene Leben quasi vorbei: „Das ist katastrophal, weil es einfach nicht stimmt. Diese falsche Projektion schürt die Angst vor einer Behinderung und führt in Verbindung mit dem Bluttest dazu, dass es immer weniger Menschen mit Trisomie geben wird. Dadurch schrumpft ihre Lobby und ihre Stimme findet weniger Gehör.“
Letztlich müsse jede Familie für sich eine schwierige und sehr persönliche Entscheidung treffen. Gut gemeinte Ratschläge, so der 56-Jährige, helfen da nicht unbedingt weiter. Er selbst etwa bekam oft zu hören, Menschen mit Down-Syndrom seien doch ihr Leben lang auf Unterstützung angewiesen. Das ist ein Argument, auf das er rückblickend mit Kopfschütteln reagiert: „Wenn wir unser Leben betrachten“, sagt der Familienvater, „dann haben wir alle immer wieder Förderbedarf – erst als Kinder, später als Jugendliche und vielleicht als Studierende. Dann sind wir einige Zeit selbstständig, bevor wir im Alter wieder auf Pflege angewiesen sind.“
Davon abgesehen, ergänzt er, könne auch eine Krankheit oder ein Unfall jederzeit eine Behinderung zur Folge haben. Darin, dass wir das oftmals ausblenden, sieht der Autor und Regisseur einen Schutzmechanismus: „Wir sagen: ,Ich bin total gesund! Ich bin total stark!’ Häufig wollen wir nicht wahrhaben, dass es da noch etwas anderes um uns herum gibt.“
Sichtbarkeit schaffen und Berührungsängste abbauen
Dieser Auseinandersetzung stellt sich Clemente Fernandez-Gil. Er ist davon überzeugt, dass eine Einteilung in „behindert“ und „nicht behindert“ nicht funktioniert, weil sie Menschen allein auf Defizite reduziert. Er will Betroffene sichtbar machen und Berührungsängste abbauen. Hierfür stellt der Autor in seiner Geschichte die Verhältnisse auf den Kopf.
In „Ganzer halber Bruder“ zeigt er Roland, einen Mann mit Down-Syndrom. Er hat einen Job, einen Freundeskreis und macht Sport. Thomas dagegen hat keine Behinderung. Er kommt aus dem Gefängnis, hat Schulden und ist nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. „Wer“, fragt Fernandez-Gil, „hat von den beiden denn eigentlich Förderbedarf?“
Mehr Sichtbarkeit vor der Kamera schaffen
Was die Personen im Film angeht, dürfte die Antwort eindeutig ausfallen. Mit Blick auf das politische Klima in Deutschland ist Clemente Fernandez-Gil weniger optimistisch. Er habe das Gefühl, dass sich immer häufiger das Recht des Stärkeren durchsetze. Wenn man etwa durch Kürzungen in der Eingliederungshilfe Geld im Haushalt sparen wolle, dann bekämen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung das direkt zu spüren.
Resignieren will der Drehbuchautor deshalb nicht. Gerade in seinem Beruf sieht er noch viel Potenzial: „Ich glaube, es würde uns allen guttun, wenn wir Menschen mit geistiger Behinderung ernst nehmen und sie öfter vor der Kamera mitmachen lassen. Wir könnten zum Beispiel Rollen an Personen mit Down-Syndrom vergeben, ohne deren Beeinträchtigung überhaupt zu thematisieren. Das wäre echte Sichtbarkeit.“
„Ganzer halber Bruder“ läuft ab dem 18. September deutschlandweit im Kino.